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"das wort ist ein geschichtenbüro" erik, 4

AutorenbildAndrea Karimé

"Es bedrückt mich/ sehr die Welt/ soll sich verändern"

Dichten und Freies Schreiben in meinen Workshops mit Kids aus Klasse 5 und 6 in Zeiten zunehmender Verunsicherung

Weiße Schrift auf schwarzem Grund
Vers aus einem Schüler*innentext.

Erfahrungsbericht: Workshops in Altenberg

Mit der zauberhaften Kreiskulturreferentin des Rheinisch-Bergischer-Kreises Charlotte Lösch und ihrem Team durfte ich an zwei Tagen mit Klasse 5 und 6 einen Schreibworkshop durchführen- in sagenhaftem Altenberg-Ambiente und mit einer echten Prinzessin Sayn Wittgenstein – die sich den Kindern mit „Ich bin Türkin“ vorstellte und eine kleine Empowerment-Rede zum Abschied hielt. Ein liebevoller Rahmen aus Materialien, Getränken, Äpfeln, belegten Brötchen (natürlich Geflügelsalami)und Sonne war vorbereitet.

Ich erzähle hier von der Arbeit mit einer fünften und einer sechsten Klasse. Von den schönen und den bitteren Augenblicken.

Denn Kinder, -Kinder of Color, geflüchtete, migrantische und mehrsprachige Kids - sind zurzeit voller Ängste und Sorgen.

Neben der großen Überraschung, dass Wörter in allen Sprachen, die sie mitgebracht haben, Gegenstand des Dichtens sein würden, durchzogen Fragen und Gespräche über die Weltlage den Workshop und die Texte der Kinder.

Wie u.a. meine Person als Frau mit internationaler Lebensgeschichte diese Themen zutage treten lassen, wie die Poesie Kraft geben kann und wodurch mich Schüler*innen aus Klasse 5 und 6 besonders gefordert haben beschreibe ich in diesem Blogartikel. Mit im Schreibgepäck sind Celina Bostic mit ihrem Lied "doppeltgemoppelt", Audre Lorde und Volha Hapeyeva.

Einstieg oder "Wer versteht das Wort "Dschikuje?"

Mein Einstieg war wie immer, ich spreche die Kinder in verschiedenen Sprachen an, lasse also verschiedene Einwander*innensprachen durch den Raum fliegen, alle die ich auf meinem Weg eingepackt habe, und kitzle so heraus, wer was versteht und wie viele Sprachen anwesend sind. Ich beginne mit Arabisch, dann Türkisch, Russisch, Polnisch, Albanisch, Italienisch, Ukrainisch, Kurdisch, Persisch, Kroatisch und am Ende kommen Französisch und Englisch.

Im Workshopgepäck: Tee mit Onkel Mustafa
und Planetenspatzen

Dies löste auch hier Verblüffung und Spaß aus. Und schon werden Wörter getauscht, verschenkt und verreimt. Wir sammeln alles an der digitalen Pinnwand.

Ich notiere mir feine Verse: Aus Lulusi (griechisch Blume) wird in der ersten Viertelstunde des Workshops „Lulusi/ excuse me“ und das Wort "tamam" beispielsweise, das in vielen Sprachen funktioniert, erwies sich in "tamamtamtamm" als "coole" Gedichtzeile, als wohlklingendes "Geheimniswort" und Rhythmuswort für die nun anschließende Textarbeit.

Andrea Karimé vor der digitalen Pinnwand
Auf einer digitalen Pinnwand sammeln wir Lieblingswörter in allen Sprachen.

Teil 1 Methodischen Input / Inspiration geben

Kreatives Schreiben oder "Erfinde deine eigene Sprache"

Ich lese ein paar Gedichte aus Planetenspatzen. Kleine Inputs für das Verfassen eigener Texte/Gedichte folgen. Immer mit dem Verweis auf unsere bereits bestehende Sammlung. Ich wähle gern Methoden, die flexibel sind, und womit jedes Kind auf seinem Niveau optimal arbeiten kann. Manche halten sich gern an die Form, manche lösen sich und nutzen sie nur für den Einstieg. Manche schreiben Gedichte, manche Geschichten.

Mir ist der Schreibfreiraum wichtig, der dadurch entstehen kann, warum schreibe ich in diesem Blogartikel:

Wortschöpfungen, Quatschwörter und andere Sprachen haben hier genauso Platz wie Fantasie, Gedanken, Poesie, Reime.

Matschka heißt Katze
Auf einer wilden Wiese tamam/ spiele ich mit Matschka tamam/ Warum hört die Matschka mich nicht/ Das Katzenfell ist flauschig/ Wild ist sie wie/ auf einer wilden Wiese tamam/ spiele ich mit Matschka tamam (Gedicht von M. 11 Jahre)

Wie meine Biografie und Identitäten auf das Schreiben der Kinder wirken

Eine Kinderbuchautorin mit Liebe zu Sprache/n und Schreiben wirkt meistens inspirierend auf Kinder. Wenn aber dann noch jemand "vorn" steht, die nicht nur weiß und nicht nur deutsch ist, entfalten sich noch ganz andere Sprach-/Textkosmen.

Durch den vielsprachigen Einstieg tauchen schnell Fragen bei den Kindern auf. Die dazu führen, dass ich mich mit meiner Biografie, meiner Person und meinen Identitäten einbringe. "Woher kommst du" "Wie viele Sprachen sprichst du?"

Audre Lorde, mein großes Vorbild, Schwarze Dichterin, Aktivistin und Poesiepädagogin, schreibt in ihrem Essay "Dichterin und Lehrerin - Mensch und Dichterin"

Das heißt, ich verstehe meine gesamte Wahrnehmung grundlegender als den Einsatz von Methoden. Dichterin und Lehrerin, Mensch und Dichterin, Lehrerin und Mensch.

Also zeige ich mich mit dem, was mich ausmacht und was mich mit den Kindern verbindet. Was ein Politikum ist, das auch sie betrifft.


Ich bin doppeltgemoppelt.

Von der Künstlerin Celina Bostic ist das schöne Lied „Doppelmoppel“. „Ich bin nicht halb dies/ ich bin nicht halb das/ ich bin doppelt“, singt sie, und gibt mir das wundervolle Wort, mit dem ich den Kindern meine eigenen mixed identity beschreiben kann; (Ich betone, nur wenn sie danach fragen, was aber nach dem Einstieg wie beschrieben immer passiert.)

"Zu mir gehören zwei Länder, zwei Religionen, ich habe eine muslimische und eine christliche Familie und zwei Sprachen; ich habe eine arabische und eine deutsche Familie. Arabisch kann ich nur wenig sprechen, und trotzdem gehört diese Sprache zu mir! Ich bin also in vielerlei Hinsicht "doppeltgemoppelt", sage ich etwa. Und die Kinder hören: Ich bin nicht weiß. Sie probieren den Ausdruck für sich aus. Manchen passt er gut, anderen nicht.


Fantasie und Poesie und Mehrsprachigkeit

Lulusi
Ich bin eine lila verrückte
Anti-Schildkröte
die auf einem träumenden Mondschiff
"lulusi lulusi" ruft.

(Gedicht eines Sechstklässlers. Lulusi ist Griechisch und bedeutet Blume.)


Das Sichtbarmachen von Mehrsprachigkeit durch meine eigene Sammlung sowie die Informationen über mich (und das, was an Erfahrungen von den Kindern in diesem Zusammenhang imaginiert wird) sind Türen zu den Texten, zu dem, was im zweiten Teil an Ängsten und Sorgen auf das Blatt fließen möchte. Diese Einschätzung teilt auch die Beobachterin Charlotte Lösch, Veranstalterin der Workshops.


"Die Kinder nehmen dich dadurch besonders ernst und fassen Vertrauen", urteilte sie, und ich darf sagen: begeistert, was mich sehr freut.

Teil 2 Freies Schreiben und Zines

Ein eckiger Schmetterling auf ein Papier gezeichnet
Zine eines Fünftklässlers.

Im zweiten Teil habe ich mich deshalb diesmal für Zines entschieden, weil ich damit den größtmöglichen Textfreiraum geben kann und das Bedürfnis der Schüler*innen nach Zeichnung und Gestaltung erfüllt wird. (Ich hab mittlerweile ein großes methodisches Repertoire und kann mich darin flexibel bewegen, sodass ich jederzeit von meinem Plan abweichen kann.) In ein kleines Faltbüchlein sollen die Kids schreiben, zeichnen und kleben und zwar zu einem Thema freier Wahl.


Ich lese noch zwei Gedichte aus "Planetenspatzen" und den Anfang aus meinem Kinderroman "Jonny Himmelblau und das Geheimnis von Schweiger" vor und dann sammeln wir Ideen und schon purzeln die Themen, und da sind auch bittere dabei:

Fantasiegeschichte; Zeitreise; Zyklus aus den Gedichten aus dem ersten Teil; Ausländer und Deutsche; Über Krieg und Frieden; Meine kurdische Kultur; Mein Lben; Meine Sprache; Gedichte und vieles mehr.
Zine eines Sechsklässlers
Zine eines Sechsklässlers.

Entstanden sind kleine Sprachbüchlein, Wunschgedichte, Gebrauchstexte, Geschichten, Listen, Kommentare.

Das Schöne ist: Das Kreative Schreiben und insbesondere die Poesie bieten die Möglichkeit zu begreifen, zu verarbeiten und zu verwandeln. Etwas, das auf dem Blatt durch Sprache gestaltet wird, verändert sich in diesem Augenblick, und so nur ist es zu erklären, dass manche Kinder Bitteres aufschreiben, wie F., 12 Jahre alt, die über ihre Ängste, abgeschoben zu werden, ein Zine gestaltet und sehr stolz ist. Oder S. 11 Jahre alt, die schrieb, „es bedrückt mich/ sehr, die Welt/ soll sich verändern“.

Ein Faltbuch wird beklebt.
Zine einer Fünftklässlerin, die die Wirkung des schwarzen Klebebands für ihren Text entdeckt hat.

Mit den Kindern reden, auf alles vorbereitet sein in diesen Zeiten

Auch meine erste Diskussion über Israel/Palästina hatte ich in Altenberg. Aber ich war gut (nicht perfekt) darauf vorbereitet. (Seit dem 7.10. höre ich beispielsweise jeden Podcast von Shai Hoffmann, las „Über Israel sprechen“ von Meron Mendel, ich folge Nazih Musharbash, dem Präsident der deutschpalästinensichen Gesellschaft, lasse mich von Jouanna Hassoun und Joana Osman belehren, lese alle Beiträge der israelischen Friedensbewegungen und vieles mehr. (Hier meine aktuelle Empfehlung), ein Gespräch mit Meron Mendel und Nazih Musharbash, beide in der Bildungsarbeit tätig, beide direkt betroffen vom Nahostkonflikt.)


Ich wusste, dass es wichtig ist, wertungsfrei zuzuhören. In einer Haltung der Offenheit und Empathie. Und dann in weiterer Folge Informationen zu geben. Und mich selbst als Person einzubringen. Aus seiner kindlichen Perspektive war seine Ansicht nachvollziehbar. Ich skizzierte meine Perspektive. Etwa: Dass ich muslimische, jüdische und christliche Freund*innen habe.

Und dass ich mir Frieden für alle Menschen wünsche. Und ich gab ein paar Informationen über die Komplexität. Nur ein Beispiel: Dass es nicht "die Menschen in Israel" gibt, sondern dass sie eine sehr heterogene Gruppe sind.

Ich weiß nicht, was es bewirkt hat, was ich aber weiß ist, dass ein zugewandtes Gespräch immer etwas Gutes bewirkt. Und wie gesagt, die Gefühle des Jungen sind ja nachvollziehbar und es bringt nichts, Texte dazu zu verbieten. Nur möchte ich natürlich darauf reagieren.


Arbeit mit Zines

Zines sind ein wunderbares Mittel, um in heterogenen Lerngruppen Schreibfreiräume zu ermöglichen. Kinder erleben, dass ihr Schreiben Spaß und Sinn macht und sogar vervielfältigt werden und damit anderen Menschen zugänglich gemacht werden kann. Judith Baumgärtner, Zineskünstlerin aus Köln beschreibt in diesen Fragmenten, was ihr Zines bedeuten:

Space haben/ genauso viel Space wie ich möchte/ echt sein auf dem Papier/ genau das sagen können, was ich sagen möchte.
(Judith Baumgärtner aka blackunrealities auf dem Zinesfest Köln 2021.)

Kleines Faltbüchlein
Zeitreise. Zine einer Sechsklässlerin.

Warum ist mir diese Arbeit wichtig?

Poesie macht dich möglich

„Poesie macht etwas möglich. … Es macht dich möglich. Es bewegt dein Leben“, schreibt Audre Lord in dem Band „Kraft Vertrauen Widerstand – Kurze Texte und Reden“, zu dem ich immer wieder greife, weil der Titel allein Notwendigkeiten der Zeit postuliert und mich beschreibt. Meine Existenz als Kinderbuchautorin und Dichterin. Audre Lorde hat ihre Arbeit als Dichterin als untrennbar mit ihrer Arbeit als Aktivistin und Lehrerin begriffen und darin liegt die Verbindung zu mir, gerade heute, wo ich aufs Tiefste erfüllt bin von diesen Schreibtagen.


zwei Bücher auf einem Heizkörper
Wichtige Essaybegleitung

Ein Gedicht zu schreiben kann stark machen

Über die Kraft der Poesie schrieb auch die Poetin Volha Hapeyeva aus Belarus sehr eindrücklich in ihrem Essay "Die Verteidigung der Poesie in Zeiten des dauernden Exils. Verbrecher Verlag 2022"

„.. aber ich will vor allem sagen, dass das poetische Wort so unglaublich viel Potenzial und Elan hat. Einmal unterstützt es uns in unseren Kämpfen, ein anderes Mal heilt es uns und zeigt die Schönheit der Welt!“

Wir können die Welt (der Kinder) nicht ändern, unserer Kinder nicht märchenhaft entlasten, nicht „alles wird wieder gut“ machen. Nein, aber wir können Kraft spenden. Durch Zuhören. Durch Respekt. Durch Poesie. Durch Schreibfreiräume. Durch das Ermöglichen von Begegnungen mit glaubhaften Vorbildern. Durch Zuhören. Durch die Anerkennung ihrer komplizierten Identitäten. Durch Wertschätzung.

Charlotte Lösch hat all dies möglich gemacht. Ich glaube, das ist in diesen Zeiten von unschätzbarem Wert.

 

 

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