Frei erzählte Geschichten sind Reiseboote, von Welt zu Welt, von Erwachsenen zu Kindern, von Wort zur Imagination! Erzählte Geschichten fördern die Vorstellungskraft. Je besser der Erzähler sich seine Geschichte im Kopf vorstellt, desto leichter gelingt es Kinder anzustecken, zu fesseln und mit ins Boot zu holen. Dabei ist es ganz egal, ob sie eine frei erfundene Geschichte erzählen, oder eine überlieferte. Und erzählen kann jede*r, behaupte ich. In meinem Blogbeitrag nenne ich Ihnen vier Gründe warum du es genauso oft machen solltest wie vorlesen.
Grund 1: Kinder lieben es, Geschichten erzählt zu bekommen
Kinder erleben es als Akt der Zuwendung und Wertschätzung, wenn Erwachsene sich die Mühe machen ihnen eine Geschichte zu erzählen. Sie hören die Stimme und Kinder lieben Stimmen. Kleine Kinder werden u.a. durch die Stimme getröstet und beruhigt.
Durch Blick-Kontakt, Mimik, Gestik, Bewegung und den Beziehung zur Erzähler*in können sich die Kinder besser konzentrieren. Zuhause ist es sogar möglich, mit der Erzähler*in zu kuscheln, und kein vorgegebenes Bild lenkt von der Einheit "Kind-Erzähler*in-Geschichte im Kopf" ab. Sie tauchen in eine Geschichte ein.
Die Kassler Geschichtenerzählerin Berit Knorr verweist darauf, wie sich das Erzählen durch die sogenannten neuen Medien verändert hat. Auch sie behauptet, dass Fernseh- und Computergeschichten kein Ersatz sind.
„Durch den Einzug der neuen Medien in unser Leben hat sich die Funktion des Erzählens grundlegend verändert; Medien treten statt Personen als Erzähler auf. Sie erzählen perfekter, spannender, bunter und schneller, aber die Zuschauer werden passiv, Kommunikation findet nur einseitig statt, der Fernseher kann nicht zuhören. Das Erzählen wird immer mehr auf das Berichten reduziert. Die Erfahrung der Verbundenheit und Nähe, wie sie beim Hören einer persönlich erzählten Geschichte entstehen kann, geht verloren. Die Handlung kann nicht mehr durch Miterzählen mitgestaltet werden und schlimmer noch: das Formen eigener innerer Bilder ist nicht mehr möglich. Über das passive Konsumieren von Bildern eröffnen sich keine inneren Erfahrungsräume.“ (Berit Knorr)
Grund 2: Erzählen ist mindestens genauso lesefördernd wie Vorlesen
Der syrisch-deutsche Geschichtenerzähler Rafik Schami spricht von einer Brücke von der Erzähler*in zu den Zuhörer*innen.
"Eine erste Brücke entsteht beim Erzählen. Sie geht vom Erzähler zu den Zuhörern und setzt dort einen hundertfachen Brückenschlag unter den Zuhörern in Gang. Beim Zuhören entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, eine Art der Verbundenheit, die beim Lesen nicht entsteht. Lesen ist wunderbar, aber eine einsame Tätigkeit. Die Zuhörer bilden allmählich ein Wesen ... Und aus dieser Gemeinschaft geht eine Brücke zurück zum Erzähler. Sie vermittelt die Stimmung unter den Zuhörer und lässt Veränderungswünsche leise herüberwandern ... Ein Märchen verändert sich immer durch die Begegnung mit dem Publikum." (Rafik Schami, Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte, München 2013)
Das freie Geschichtenerzählen ist so eine flexible Methode der Sprachförderung. Eine mündlich erzählte Geschichte lädt zum Mitmachen und Verändern ein. Das Kind erlebt, wie du eine Geschichte sprachlich konstruierst, hat also eine direkte Anleitung. Lernen durch Nachahmung hilft so beim Wortschatzaufbau und bei der Entwicklung einer eigenen Sprachfähigkeit. Kommunikation wird gefördert. Die Beziehung und der Kontakt sind das Verbindungsglied zwischen Wort und Imagination.
Und das ist wesentlich: Die Imaginationsfähigkeit wird inspiriert durch das Freie Erzählen. Die Erzähler*in ruft beim Erzählen innere Bilder auf. So fällt es es Kindern leicht, sich ebenfalls etwas vorzustellen. Durch den Einfluss der Bilder ist die Imaginationsfähigkeit der Kinder besonders gefährdet. Fürs Lesen aber ist es notwändig, eigene Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Die besondere Motivation der Kinder, frei erzählte Geschichten zu hören zu wollen, müsste also viel mehr genutzt werden.
„Sprachentwicklung bildet einen entscheidenden Faktor in der Spezialisierung unserer beiden Gehirnhälften. Mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit werden die neuronalen Muster des Gehirns komplexer. Jede erzählte Geschichte hilft dem Gehirn, neue Muster und Verbindungen herzustellen, denn sie spricht viele Sinne an. Die Kinder hören den Klang der Stimme, empfinden die Gefühle, die in der Geschichte eine Rolle spielen und sehen innere Bilder.“ (Berit Knorr http://eusebya.gmxhome.de/pages/erzwkstt.html)
Grund 3. Geschichten bauen Brücken zu anderen Kulturen
In allen Ländern der Welt gibt es mündlich überlieferte Geschichten, in denen wir etwas über andere Kulturen erfahren. Erzählen ist ja auch etwas, das zum Menschsein gehört. Mythen, Legenden und Märchen werden seit Jahrtausenden überliefert und dokumentieren menschliche Erfahrung und Fantasie.
Wenn wir eine Geschichte aus einem anderen Land erzählen, werden Kinder, die mit diesem Land zu tun haben, besonders wertgeschätzt und sich wertgeschätzt fühlen. In vielen Ländern der Welt gibt es immer noch ein viel lebendigerer mündliche Erzähltradition und vieles der Weisheiten und Bildungsschätze werden über Geschichten zu uns transportiert. Im og genannten Buch verdeutlicht Rafik Schami den kulturellen Gehalt von überlieferten Märchen: "Die Erzähler schöpften aus der Weisheit ihrer Völker, indem sie sie belauschten, das Gehörte in eine Form gossen und dem Volk als Märchen zurückgaben."
Grund 4: Jede*r Mensch ist ein Erzähler.
Wir erzählen tagtäglich und immer wieder. Alles mögliche. Unseren unseren Nachbarn, Familien, Kolleg*innen. Das sind Alltagsdinge, ja, aber es ist eben der Akt des Erzählens. Dieser ist in uns Menschen angelegt. Deshalb kann auch jede*r Geschichten erzählen!
Probiere es aus: Nimm dir ein Märchen, merk dir nur den roten Faden der Geschichte und erzähle den Rest in eigenen Worten, entlang dessen, was du dir vorstellst. Ändere ab, wenn es dir schmeckt. Folge nur deinen inneren Bildern. Kurze Märchen aus aller Welt findest du zum Beispiel hier : http://maerchen-welt.eu/index.htm
Wichtig ist nur, dass wir das Erzählte nicht bewerten.
Reizt dich das Erzählen, traust dich aber nicht einfach anzufangen?
Dann besuche meine kurze Online-Fortbildung im Februar. Dort hast du die Möglichkeit dich unter meinen Fittichen auszuprobieren und lernst einen Trick, wie du Geschichten schnell auswendig lernen kannst. Außerdem erfährst du, wie du mit wenigen Mitteln aus dem Stehgreif eine Geschichte für Kinder erfinden kannst.
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"Geschichten erzählen - Geschichten erfinden für und mit Kindern"
In diesem Sinne: Lass' die Buchstaben rascheln.
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